Tia Lucia

27062008

Wir gehen den schma­len Weg und die Trep­pe hoch zu der Pousa­da, über deren Tür mit gro­ßen roten Let­tern «Tia Lucia» steht. Offen­bar hat Tan­te Lucia uns schon kom­men sehen. Durch eine dop­pel­te Git­ter­tür schaut sie uns an und fragt mit tie­fer, rau­chi­ger Stim­me, was wir wol­len. Ich fra­ge, ob sie ein Zim­mer für uns habe. Ja sagt sie. Für 20 R$.

Sie beginnt die 2 Git­ter­tü­ren auf­zu­schlie­ßen. Irgend­wie geben mir die 4 Schlös­ser, die sie jetzt ent­fernt, wenigs­tens ein biss­chen Ver­trau­en. Sie führt uns durch einen Raum, in dem sich etli­che Kat­zen tum­meln und der offen­bar ihr Wohn‑, Schlaf- und Ess­zim­mer gleich­zei­tig ist. Hier herrscht ein ziem­li­ches Cha­os. Nach hin­ten führt ein Gang mit meh­re­ren Zim­mern links und rechts, offen­bar die zu ver­mie­ten­den. Die ers­te Tür rechts steht auf und aus die­ser dringt in fast uner­träg­li­cher Laut­stär­ke das Stim­men­ge­wirr einer Telenovela. 

Wir erha­schen den Blick auf den Ver­ur­sa­cher des Lärms, einen sehr dicken Mann im Unter­hemd, der gera­de mal einen Meter vor dem klei­nen Fern­se­her sitzt und sich die Dröh­nung gibt.

Das Zim­mer gegen­über soll unse­res sein. 

Unser Zim­mer bei Tia Lucia – gefühl­te 60 Grad Innentemperatur

Jetzt nur nicht lan­ge über­le­gen – ich sage Tia Lucia, dass wir es neh­men. Wir tre­ten ein und wer­den von der schwü­len Hit­ze fast erschla­gen. Wir wer­fen erst­mal die Ruck­sä­cke auf das Bett.

Ein ers­ter Reflex ist der suchen­de Blick nach Fens­tern, wir wol­len sie auf­rei­ßen – aber es gibt kei­ne. Dies ist eine Ursa­che für die Hit­ze. Die ande­re ist sicher­lich das nack­te Well­blech­dach, dass sich direkt über unse­ren Köp­fen ertreckt. Tia Lucia ist mitt­ler­wei­le wie­der vor­ne in ihrem Wohn-Ess-Schlaf­zim­mer. Schon nach Sekun­den läuft uns die Brü­he am Kör­per her­un­ter. An den Wän­den unse­res Zim­mers sit­zen fet­te Mos­ki­tos, wir kön­nen sie schon vol­ler Vor­freu­de schmat­zen hören.

Die neben dem Bett ste­hen­den zwei klei­nen Ven­ti­la­to­ren kön­nen allen­falls hel­fen, die Mos­ki­tos in dem beschränk­ten Wir­kungs­kreis ihres Luft­ke­gels fern­zu­hal­ten, die Hit­ze ver­tei­len sie nur. Und ob sich die­se hung­ri­gen Bies­ter von so einem Lüft­chen ein­schüch­tern las­sen wer­den, da sind wir uns nicht sicher.

Toi­let­te und Dusche sind in das Zim­mer inte­griert. Die Toi­let­ten­spü­lung funk­tio­niert lei­der genau so wenig, wie die Dusche. Dafür ste­hen zwei Eimer mit Was­ser auf dem Boden. Aus dem Was­ser­hahn über dem siffi­gen Wasch­be­cken tröp­felt es eher weni­ger als mehr. Aber wenigs­tens ein biss­chen, und dafür sind wir wirk­lich dank­bar. Dia­na ist dar­über hin­aus beein­druckt von der Grö­ße der Kaker­la­ken, die das Zim­mer mit uns teilen.

Wenigs­tens das Wasch­be­cken tröp­felt etwas…

Nun gut. Wir müs­sen die Situa­ti­on posi­tiv sehen, wir sind ja ins­ge­samt nur ein paar Stun­den hier. Und hier zu sein ist alle­mal bes­ser, und – hof­fent­lich – auch siche­rer, als die Nacht auf der Rodo­viá­ria zu verbringen. 

Aber hier im Zim­mer hält man es wirk­lich nicht aus. Noch­mal raus­ge­hen? Lei­der haben wir den Ein­druck, dass hier im Haus aller­hand zwie­lich­ti­ge Gestal­ten rum­lau­fen – außer dem Mann mit der Tele­no­ve­la schei­nen dem Lärm nach auch noch ande­re Zim­mer belegt zu sein. Zu allem Über­fluss lässt sich unse­re Zim­mer­tür lei­der nicht abschlie­ßen, so dass wir gro­ße Beden­ken haben, unse­re Sachen allei­ne auf dem Zim­mer zu las­sen. Und wo sol­len wir auch hin? Zur Rodo­vi­a­ria? Da ist es ja auch nicht viel bes­ser, allen­falls nicht ganz so warm.

Wir beschlie­ßen, dass Dia­na noch einen Moment aus­hält und ich uns erst­mal etwas kal­tes zu trin­ken und etwas zu essen orga­ni­sie­ren gehe. Viel­leicht kön­nen wir uns ja drau­ßen vor dem Haus irgend­wo hin­set­zen, ein­fach nur, um die­ser Mör­der­hit­ze zu entkommen.

Gesagt getan. Ich gehe wie­der rüber zur Rodo­vi­a­ria und kau­fe erst­mal 2 Sand­wi­ches, 2 gro­ße eis­kal­te Dosen Bier und 2 gro­ße – eben­falls eis­kal­te – Fla­schen Wasser.

Als ich zurück bin, set­zen wir uns kur­zer­hand vor dem Haus auf die Trep­pe zu den Hüh­nern und Kat­zen, neben ein Rinn­sal, durch das ver­mut­lich das biss­chen Abwas­ser rinnt, das die­ses Haus von sich gibt. Mit Aus­sicht auf die Rodo­vi­a­ria las­sen wir uns die Sand­wi­ches und kal­ten Geträn­ke erst­mal schme­cken. Irgend­wann kommt ein Mann vor­bei, viel­leicht Tia Luci­as Ehe­mann, und sagt: «Male­ri­sche Aus­sicht, was?» Wir müs­sen schmun­zeln. Ges­tern Abend saßen wir noch zu zweit in einem Ein­baum auf einem der Sei­ten­ka­nä­le des Ama­zo­nas und haben den Son­nen­un­ter­gang genos­sen. Welch ein Kontrast!

Die nun fol­gen­de Nacht ist nicht wirk­lich erhol­sam. Wir müs­sen das Mos­ki­to­netz auf­hän­gen, in Kom­bi­na­ti­on mit den Ven­ti­la­to­ren erweist sich das aller­dings als etwas pro­ble­ma­tisch. Die­se Pus­ten das Netz näm­lich stän­dig hin und her. Ihre ohne­hin schwa­che Leis­tung kommt, durch das Netz auf­ge­hal­ten, gar nicht mehr bei uns an.

Den ande­ren Bewoh­nern des Hau­ses scheint die Hit­ze nicht so viel aus zu machen. Oder doch? Jeden­falls ist ein unheim­li­cher Lärm von Fern­se­hern, Stim­men, Schrei­en und ande­ren Akti­vi­tä­ten zu hören der uns kaum Schlaf fin­den lässt. 

Irgend­wann muss ich doch ein­ge­schla­fen sein, denn ich wer­de plötz­lich und ganz unver­mit­telt wach und muss mich erst­mal ori­en­tie­ren. Irgend etwas stimmt nicht. Ich brau­che einen Moment um klar den­ken zu kön­nen, die Hit­ze hat mir offen­bar den Kopf ver­ne­belt. Wir sind immer noch bei Tia Lucia, aber irgend­was ist anders. 

Plötz­lich wird mir klar, was unge­wöhn­lich ist: Es ist toten­still. Kei­ne Stim­men, kei­ne Fern­se­her, kei­ne Ven­ti­la­to­ren, nichts. 

Kei­ne Ven­ti­la­to­ren – das ist es – der Strom muss aus­ge­fal­len sein!

Erst­mal bin ich erleich­tert, das es kei­ne unmit­tel­ba­re Gefah­ren­si­tua­ti­on ist, die mich hat auf­wa­chen las­sen. In solch unsi­che­ren Umge­bun­gen, noch dazu hier mit der offe­nen Tür, habe ich nor­ma­ler­wei­se einen sehr leich­ten Schlaf und bin in Alarm­be­reit­schaft. Aber es ist soweit alles in Ord­nung. Nur haben wir kei­nen Strom mehr. Und kei­nen Strom zu haben heißt lei­der auch, dass kein – wenn auch noch so klei­ner – Luft­zug mehr geht. Die ste­hen­de Hit­ze ist noch unerträglicher. 

Kurz nach 5 geht der Wecker und befreit uns aus unse­rem Däm­mer­zu­stand. Er wirkt nach der fast schlaf­lo­sen Nacht wirk­lich wie eine Erlö­sung. Schnell haben wir alles in unse­re Ruck­sä­cke gestopft. Tia Lucia ist auch schon auf. Viel­leicht hat sie Angst gehabt, dass wir ohne zu zah­len abhau­en wür­den. Wir bezah­len und dann ver­ab­schie­den wir uns und sau­gen erst­mal die küh­le Luft drau­ßen in uns ein. 

Zurück blei­ben gemisch­te Gefüh­le. Für uns war das eine etwas unbe­que­me Nacht aber Tia Lucia lebt ihr gan­zes Leben in die­sen Umstän­den, ver­mie­tet fast ihr gesam­tes Haus um Geld zum Leben zu haben und lebt selbst unter beeng­tes­ten Ver­hält­nis­sen in einer nicht gera­de beglü­cken­den Umge­bung. Und ver­gli­chen mit vie­len ande­ren hier in den armen Regio­nen des Lan­des, hat sie es dabei noch rich­tig gut.

Für uns heißt es jetzt aber erst­mal, vol­ler Vor­freu­de nach vor­ne zu schau­en: Len­çois Maran­hen­ses wir kommen!

Wei­ter­le­sen: Chao­ti­sches Bar­reirin­has

Der Rei­se­be­richt Bra­si­li­en, High­lights des Nor­dens wird wöchent­lich fortgesetzt!
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