Wir gehen den schmalen Weg und die Treppe hoch zu der Pousada, über deren Tür mit großen roten Lettern «Tia Lucia» steht. Offenbar hat Tante Lucia uns schon kommen sehen. Durch eine doppelte Gittertür schaut sie uns an und fragt mit tiefer, rauchiger Stimme, was wir wollen. Ich frage, ob sie ein Zimmer für uns habe. Ja sagt sie. Für 20 R$.
Sie beginnt die 2 Gittertüren aufzuschließen. Irgendwie geben mir die 4 Schlösser, die sie jetzt entfernt, wenigstens ein bisschen Vertrauen. Sie führt uns durch einen Raum, in dem sich etliche Katzen tummeln und der offenbar ihr Wohn‑, Schlaf- und Esszimmer gleichzeitig ist. Hier herrscht ein ziemliches Chaos. Nach hinten führt ein Gang mit mehreren Zimmern links und rechts, offenbar die zu vermietenden. Die erste Tür rechts steht auf und aus dieser dringt in fast unerträglicher Lautstärke das Stimmengewirr einer Telenovela.
Wir erhaschen den Blick auf den Verursacher des Lärms, einen sehr dicken Mann im Unterhemd, der gerade mal einen Meter vor dem kleinen Fernseher sitzt und sich die Dröhnung gibt.
Das Zimmer gegenüber soll unseres sein.
Jetzt nur nicht lange überlegen – ich sage Tia Lucia, dass wir es nehmen. Wir treten ein und werden von der schwülen Hitze fast erschlagen. Wir werfen erstmal die Rucksäcke auf das Bett.Ein erster Reflex ist der suchende Blick nach Fenstern, wir wollen sie aufreißen – aber es gibt keine. Dies ist eine Ursache für die Hitze. Die andere ist sicherlich das nackte Wellblechdach, dass sich direkt über unseren Köpfen ertreckt. Tia Lucia ist mittlerweile wieder vorne in ihrem Wohn-Ess-Schlafzimmer. Schon nach Sekunden läuft uns die Brühe am Körper herunter. An den Wänden unseres Zimmers sitzen fette Moskitos, wir können sie schon voller Vorfreude schmatzen hören.
Die neben dem Bett stehenden zwei kleinen Ventilatoren können allenfalls helfen, die Moskitos in dem beschränkten Wirkungskreis ihres Luftkegels fernzuhalten, die Hitze verteilen sie nur. Und ob sich diese hungrigen Biester von so einem Lüftchen einschüchtern lassen werden, da sind wir uns nicht sicher.
Toilette und Dusche sind in das Zimmer integriert. Die Toilettenspülung funktioniert leider genau so wenig, wie die Dusche. Dafür stehen zwei Eimer mit Wasser auf dem Boden. Aus dem Wasserhahn über dem siffigen Waschbecken tröpfelt es eher weniger als mehr. Aber wenigstens ein bisschen, und dafür sind wir wirklich dankbar. Diana ist darüber hinaus beeindruckt von der Größe der Kakerlaken, die das Zimmer mit uns teilen.
Aber hier im Zimmer hält man es wirklich nicht aus. Nochmal rausgehen? Leider haben wir den Eindruck, dass hier im Haus allerhand zwielichtige Gestalten rumlaufen – außer dem Mann mit der Telenovela scheinen dem Lärm nach auch noch andere Zimmer belegt zu sein. Zu allem Überfluss lässt sich unsere Zimmertür leider nicht abschließen, so dass wir große Bedenken haben, unsere Sachen alleine auf dem Zimmer zu lassen. Und wo sollen wir auch hin? Zur Rodoviaria? Da ist es ja auch nicht viel besser, allenfalls nicht ganz so warm.
Wir beschließen, dass Diana noch einen Moment aushält und ich uns erstmal etwas kaltes zu trinken und etwas zu essen organisieren gehe. Vielleicht können wir uns ja draußen vor dem Haus irgendwo hinsetzen, einfach nur, um dieser Mörderhitze zu entkommen.
Gesagt getan. Ich gehe wieder rüber zur Rodoviaria und kaufe erstmal 2 Sandwiches, 2 große eiskalte Dosen Bier und 2 große – ebenfalls eiskalte – Flaschen Wasser.
Als ich zurück bin, setzen wir uns kurzerhand vor dem Haus auf die Treppe zu den Hühnern und Katzen, neben ein Rinnsal, durch das vermutlich das bisschen Abwasser rinnt, das dieses Haus von sich gibt. Mit Aussicht auf die Rodoviaria lassen wir uns die Sandwiches und kalten Getränke erstmal schmecken. Irgendwann kommt ein Mann vorbei, vielleicht Tia Lucias Ehemann, und sagt: «Malerische Aussicht, was?» Wir müssen schmunzeln. Gestern Abend saßen wir noch zu zweit in einem Einbaum auf einem der Seitenkanäle des Amazonas und haben den Sonnenuntergang genossen. Welch ein Kontrast!
Die nun folgende Nacht ist nicht wirklich erholsam. Wir müssen das Moskitonetz aufhängen, in Kombination mit den Ventilatoren erweist sich das allerdings als etwas problematisch. Diese Pusten das Netz nämlich ständig hin und her. Ihre ohnehin schwache Leistung kommt, durch das Netz aufgehalten, gar nicht mehr bei uns an.
Den anderen Bewohnern des Hauses scheint die Hitze nicht so viel aus zu machen. Oder doch? Jedenfalls ist ein unheimlicher Lärm von Fernsehern, Stimmen, Schreien und anderen Aktivitäten zu hören der uns kaum Schlaf finden lässt.
Irgendwann muss ich doch eingeschlafen sein, denn ich werde plötzlich und ganz unvermittelt wach und muss mich erstmal orientieren. Irgend etwas stimmt nicht. Ich brauche einen Moment um klar denken zu können, die Hitze hat mir offenbar den Kopf vernebelt. Wir sind immer noch bei Tia Lucia, aber irgendwas ist anders.
Plötzlich wird mir klar, was ungewöhnlich ist: Es ist totenstill. Keine Stimmen, keine Fernseher, keine Ventilatoren, nichts.
Keine Ventilatoren – das ist es – der Strom muss ausgefallen sein!
Erstmal bin ich erleichtert, das es keine unmittelbare Gefahrensituation ist, die mich hat aufwachen lassen. In solch unsicheren Umgebungen, noch dazu hier mit der offenen Tür, habe ich normalerweise einen sehr leichten Schlaf und bin in Alarmbereitschaft. Aber es ist soweit alles in Ordnung. Nur haben wir keinen Strom mehr. Und keinen Strom zu haben heißt leider auch, dass kein – wenn auch noch so kleiner – Luftzug mehr geht. Die stehende Hitze ist noch unerträglicher.
Kurz nach 5 geht der Wecker und befreit uns aus unserem Dämmerzustand. Er wirkt nach der fast schlaflosen Nacht wirklich wie eine Erlösung. Schnell haben wir alles in unsere Rucksäcke gestopft. Tia Lucia ist auch schon auf. Vielleicht hat sie Angst gehabt, dass wir ohne zu zahlen abhauen würden. Wir bezahlen und dann verabschieden wir uns und saugen erstmal die kühle Luft draußen in uns ein.
Zurück bleiben gemischte Gefühle. Für uns war das eine etwas unbequeme Nacht aber Tia Lucia lebt ihr ganzes Leben in diesen Umständen, vermietet fast ihr gesamtes Haus um Geld zum Leben zu haben und lebt selbst unter beengtesten Verhältnissen in einer nicht gerade beglückenden Umgebung. Und verglichen mit vielen anderen hier in den armen Regionen des Landes, hat sie es dabei noch richtig gut.
Für uns heißt es jetzt aber erstmal, voller Vorfreude nach vorne zu schauen: Lençois Maranhenses wir kommen!
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