Der Roraima hat eine Ausdehnung von 15km in der Länge, eine Fläche von über 50 Quadratkilometern und liegt an seiner höchsten Stelle 2810 Meter über dem Meeresspiegel. Seine gesamte Oberfläche besteht aus Felsskulpturen, Spalten, Rissen, Tümpeln und anderen Unwägbarkeiten. Wer sich hier verirrt, ist wirklich verloren. Wenn man einmal oben ist und sich verlaufen hat, ist es nur mit sehr viel Glück möglich, den einzigen «Ausgang», nämlich die Rampe, über die wir aufgestiegen sind, wieder zu finden. Und John ist immer noch nicht aufzufinden.
Wir gehen langsam weiter. Nach einiger Zeit kommen wir zu einem großen Plateau. Hier ist die erste Stelle, an der man ein wenig Weitblick haben könnte. Ich sage bewusst «könnte», denn der Nebel verhindert im Moment jeglichen Überblick. Ratlos bleiben wir stehen und diskutieren das weitere Vorgehen.
Balbina ist verzweifelt. Einerseits betrachtet sie mit sorgenvollem Blick das Wetter und möchte uns am liebsten so schnell wie möglich an einen geschützten Ort bringen, aber andererseits können wir John auch nicht hier alleine lassen.
Plötzlich reißt die Wolkenschicht etwas auf und gibt uns einen vagen Ausblick über die Ebene. Nico holt sein Fernglas heraus und starrt in die Wolkenlöcher. Plötzlich ruft er: «guck mal, steht da nicht jemand?» Ich nehme mir das Fernglas und zum Glück vergrößert sich das Loch in der Wolke jetzt noch weiter und auch ich sehe eine kleine Gestalt mit schwarzem Rucksack auf der anderen Seite der Ebene. Mit bloßem Auge ist er kaum zu erkennen. Ich stecke zwei Finger in den Mund und lasse einen durchdringenden Pfiff ertönen. Die Gestalt hebt den Kopf. Langsam und zögerlich bewegt er sich nun auch uns zu. Ist das wirklich John?
Wir rufen, pfeifen und winken. Jetzt ist es Nico, der los läuft, direkt auf ihn zu, bis er Gewissheit hat, dass es wirklich John ist. Als der seinerseits sieht, dass wir es sind, beginnt er zu laufen. Als er bei uns ist, schließt er als erstes seine Freundin in die Arme. Ich glaube, er ist mindestens genauso froh wie wir. Und dass Balbina ein Stein vom Herzen fällt, das kann man fast hören.
Als wir ihn fragen, warum er denn nicht gewartet habe, erklärt er, er habe Musik gehört und habe gar nicht gemerkt, dass er schon längst oben und viel zu weit gelaufen sei. Unglaublich. Wie kann man sich bei einer derartigen once-in-a-lifetime-experience derart ablenken, dass man die Umgebung, wegen der man ja eigentlich hier ist, völlig ausblendet?? In der U‑Bahn Musik zu hören um die Zeit zu überbrücken, das kann ich ja noch nachvollziehen. Aber hier möchte ich doch jede Sekunde, jeden Geruch und auch jedes Geräusch in mich aufnehmen und zu einem Gesamterlebnis werden lassen! Aber jeder wie er mag. Wir sind jedenfalls froh, dass er wieder bei uns ist.
Nun aber müssen wir schleunigst einen Unterschlupf für die Nacht finden. Das Wetter ist schon wieder schlechter geworden. Die meisten Felsen bieten gegen die hier oft tobenden Unwetter nur unzureichenden Schutz. Zum Glück kennen die Indios einige größere, aber sehr gut zwischen den Felsen versteckte, Höhlen. Sie nennen sie «Hotels». Zum einem davon führt uns nun Balbina. Nach ca. einer halben Stunde erreichen wir es und ich muss sagen, sie hat nicht zuviel versprochen! Der Name «Hotel» ist wirklich Programm :-)
Bei unserem handelt es sich um zwei miteinander verbundene Höhlen mit einem schmalen Felssims davor, der als Überdachung dient. Er ist gerade breit genug, um 3–4 Zelte darunter zu stellen. Balbina bezieht mit ihren Begleitern die Höhle und wir stellen unsere Zelte unter dem Sims auf. Von oben fällt von dem Sims ein dünner Wasserstrahl direkt vor unseren Zelten herab – ideal für eine kurze Dusche!
Das Wetter hat sich wirklich so schnell verändert, wie wir befürchtet hatten. Schon der Weg hierher führte durch dichte Wolken – John kann wirklich von Glück sagen, dass sie genau in dem Moment noch einmal aufgerissen sind, wo wir ihn gesichtet haben. Kaum sind wir in unserem Unterstand, fängt es auch schon an, heftig zu regnen. Dem Wasserdruck unserer «Dusche» kommt das entgegen, aber unsere Unternehmungslust wird dadurch etwas gedämpft. Für unsere geschundenen Knochen und die Blasen, die sich vor allem an Nicos Füßen nicht gerade verkleinert haben, ist eine Pause allerdings sicherlich nicht das Schlechteste.
Nach der Dusche (selbstverständlich ohne Seife oder Ähnliches) nutzten wir die Gelegenheit, um ein bisschen zu entspannen und etwas zu essen.
Mein erster Kamera-Akku fängt langsam an schlapp zu machen. Ich habe mittlerweile 430 Bilder auf dem Trek gemacht. Noch bin ich allerdings entspannt, da ich denke, dass ich auf dem Rückweg vermutlich etwas weniger fotografieren werde.
Morgen haben wir den ganzen Tag Zeit, den Tepui von oben zu erkunden. Ich kann es vor Vorfreude jetzt schon wieder kaum erwarten. Plötzlich fällt der Mecker-Deutsche in Santa Elena wieder ein: «Ein halber Tag da oben reicht völlig aus!»
Dann müssten wir ja morgen früh schon wieder absteigen – unvorstellbar!
Eigentlich wollen wir morgen gerne zu dem Dreiländereck Brasilien-Guiana-Venezuela wandern, das sich weiter nordöstlich auf dem Roraima befindet. Nicht wegen dem Punkt als solchen, sondern eher, weil wir denken, auf der Tour dort hin gäbe es viel zu sehen. Als wir Balbina darauf ansprechen, rät sie uns davon allerdings ab. Sie sagt, das sei nur ein langer Marsch (8 Stunden), der aber die eigentlichen Highlights des Tepuis aussparen würde. Sie schlägt vor, uns zu den schönsten Ecken zu führen, und dafür das Dreiländereck auszulassen. Nach all dem, was wir bisher mit ihr erlebt haben, zögern wir nicht lange sondern verlassen uns voll auf ihre Empfehlung. Sie ist bislang eine fantastische Führerin!
Im Moment ziehen immer noch Wolken über den Roraima. Hoffentlich klart es nachher noch einmal auf, ich würde gerne später einmal an die Kante gehen, die sich gerade einmal 50 Meter von unserem «Hotel» entfernt befindet, um ein paar Bilder zu machen. Derweil sitze ich aber noch, vor dem Regen geschützt, unter unserem Sims, schreibe unsere Erlebnisse in mein Reisetagebuch und versuche mich von der Stelle aus, an der ich gerade sitze, an einem Bild der etwas anderen Art…
Später klart es dann wieder etwas auf. Kaum hat es aufgehört zu regnen, da stehen wir schon bei Balbina und bitten sie, mit uns noch etwas über den Tepui zu gehen. Wir können von der Landschaft hier oben einfach nicht genug bekommen…
Schon nach 10 Minuten Wanderung hätte ich den Weg zu unserem «Hotel» nicht mehr zurückgefunden. Balbina aber steuert in traumwandlerischer Sicherheit durch die Felsformationen.
Je mehr wir darüber nachdenken, um so seltsamer erscheint uns die Situation hier oben. Es ist einfach unmöglich, sich vorzustellen, dass wir uns fast dreitausend Meter über dem Meeresspiegel auf einem 2 Milliarden Jahre alten Granitblock über der Savanne befinden auf dem sich fleischfressende Pflanzen und urzeitliche Tiere tummeln.
Auf unserem Weg sehen wir bizarre Steinformationen, Seen und kleine Wasserfälle. Da wir noch etwas Zeit haben, bis es dunkel wird, schlägt Balbina vor, uns zu einer etwas abgelegenen Schlucht zu führen, in der tausende nachtaktiver Vögel leben. Auf Deutsch heißen diese «Fettschwalme», «Fettschwalben», auf Spanisch «Guacharos» oder auf Englisch «Oilbirds», erklärt sie. Schon als wir in der Nähe der sehr tiefen Schlucht ankommen, hören wir ihr Geschrei. Um sie auch sehen zu können, müssen wir zur Kante vorrobben. Dazu hält einer den anderen jeweils an den Füßen fest und dann schieben wir uns vor, bis an die Kante. Wer normalerweise kein Schwindelgefühl verspürt, der bekommt es hier mit Sicherheit. Wow. Das ist tief! Ich habe Angst, dass meine Kamera runterfällt, obwohl ich den Gurt mehrfach um mein Handgelenk gewickelt habe. Aber nur so können wir die Vögel auch sehen. Sie fliegen weit, weit unter uns durch die Schlucht und setzen sich immer wieder in ihre kleinen Höhlen oder Felsvorsprünge, wo sie brüten.
Dieses Bild ist von commons.wikimedia.org.Die bis zu 45 Zentimeter großen, nachtaktiven Vögel haben ein braun gefärbtes Gefieder und weiße Flecken auf den Flügeln. Sie sind ganz besondere Vögel und gehören nicht nur einer eigenen Gattung an sondern Bildern auch eine eigene Art. Besonders auffällig sind die riesigen schwarzen Augen sowie der stark nach unten gebogene Schnabel. Mit ihrer Flügelspannweite von 90 Zentimetern sind sie jedenfalls deutlich größer, als man vom Namen «Schwalbe» her annehmen würde. Nachts fliegen sie in den Wäldern unterhalb des Roraima umher und suchen Bäume auf, die Früchte tragen, insbesondere die Früchte der Ölpalmen sind sehr beliebt. Das erklärt auch die starke Gewichtszunahme bei den Jungtieren. Diese wiegen dann eineinhalb bis zweimal soviel, wie ihre Eltern. Die Tiere sind blind, sie orientieren sich, wie Fledermäuse, mit Hilfe der Echopeilung.
Der englische Name «Oilbird» rührt von einer traurigen, alten Tradition her, die die Bestände der Vögel beinahe ausgerottet hätte.
Einheimische sammelten früher die Jungvögel ein, wenn diese gerade besonders wohlgenährt und kurz vor dem Ausfliegen waren. Die Vögel wurden in großen Töpfen so lange verkocht, bis man aus ihnen Öl gewonnen hatte, das man unter anderem für Lampen verwendete. Das berichtete schon der Entdecker Alexander von Humboldt 1799 in seinen Aufzeichnungen. Heute wird das zwar zum Glück nicht mehr praktiziert, aber in den vergangenen Jahrzehnten wurden im gesamten südamerikanischen Verbreitungsgebiet der Vögel so viele Wälder zerstört, dass die Bestände extrem zurückgegangen sind, weil ihnen die Nahrungsgrundlage fehlt.
Eine so große Kolonie ist deshalb hier, obwohl sie nicht direkt auf dem Roraima lebt, und auch nicht endemisch ist, etwas ganz besonderes.
Überhaupt ist die Anzahl der Tiere, die tatsächlich auf der Oberfläche des Roraima lebt, naturgemäß recht überschaubar. Wind und Wetter, sowie das karge Nahrungsangebot schaffen nicht gerade eine attraktives Lebensumfeld. Zu unserer Freude gefällt es auch den Moskitos hier oben nicht, dafür aber uns um so mehr.
Nachdem jeder von uns einmal vorgerobbt ist, und die Fettschwalme gesehen hat, müssen wir uns nun wirklich sputen, um noch vor der Dunkelheit, die hier sehr plötzlich einbricht, zurück im «Hotel» zu sein. An einem Wasserfall holen wir noch einmal frisches Wasser. Dieses können wir gefahrlos trinken. Lediglich das Wasser aus den stehenden Gewässern hier oben sollen wir mit Micropur entkeimen, erklärt uns Balbina, da es mittlerweile durch die verhältnismäßig vielen Besucher auf dem Roraima kontaminiert sein könne.
Vielleicht an dieser Stelle ein paar Worte zum Tourismus und seinen Folgen auf diesen fragilen, urzeitlichen Relikten der Erdgeschichte. Natürlich bleibt es nicht aus, dass die Menschen, die den Roraima oder die anderen Tafelberge besteigen, auch Müll produzieren und irgendwann ihre Geschäfte verrichten müssen. Hierfür gibt es zwei ganz klare Regeln, an die sich (hoffentlich) auch alle halten:
- Jeder, der hier hoch geht, trägt alles – aber auch wirklich alles – was er hochgebracht hat, wieder mit nach unten. Auch die Ergebnisse seiner großen Geschäfte. Dafür benutzt man Plastiktüten, deren Inhalt kann man mit Kalk ablöschen, und dann nimmt man sie wieder mit runter, wo sie entsorgt werden.
- Es wird nichts mit runter genommen, was man nicht auch hoch getragen hat. Dies gilt insbesondere für Tiere, Pflanzen und Steine.
Trotz dieser Regeln, die auch penibel überwacht werden (am Ausgang werden z.B. die Rucksäcke von den Rangern stichprobenartig überprüft) bleibt es natürlich leider nicht aus, dass das empfindliche, Milliarden Jahre alte Ökosystem hier oben unter dem Tourismus leidet.
Wir schaffen es gerade noch so vor Einbruch der Dunkelheit ins Lager zurück zu kehren. Das Essen nehmen wir mittlerweile gemeinsam mit den Indios ein, wir haben den Eindruck, dass diese jetzt deutlich entspannter sind, seit sie ein bisschen Abstand zur Zivilisation gewonnen haben. Balbina verspricht, uns später, nach dem Essen, eine Legende ihres Stammes zu erzählen…
Hat Dir der Artikel gefallen?
Dann melde Dich doch bitte zu meinem kostenlosen Newsletter an. Dann bekommst Du eine Nachricht bei neuen Artikeln und Du wirst auch exklusiv als erstes über neue Workshops und Reisen informiert! Außerdem gibt es dort auch immer wieder Hintergrund-Infos, die so nicht im Blog stehen.
Natürlich freue ich mich auch sehr, wenn Du mir bei YouTube, Instagram und Facebook folgst.
Alle Inhalte © Gunther Wegner
*) Mit einem Stern gekennzeichnete Links sind externe Partner-Links. Ihr unterstützt mich, wenn ihr darüber bestellt. Alternativ könnt ihr auch über folgende Direktlinks in die Shops wechseln:
Amazon.de, Amazon.at, Amazon.com, Foto Koch, Augenblicke-Eingefangen, camforpro.com.
Über meine Zusammenarbeit mit externen Partnern habe ich hier ausführlich geschrieben. Danke!